Inhaltsverzeichnis
- 1. Vom verwahrlosten Kind zum gesellschaftlichen Außenseiter
- 2. Der Wendepunkt: Ein Vater stirbt, ein Sohn wird inhaftiert
- 3. Gescheiterter Neuanfang in einer feindlichen Gesellschaft
- 4. Die spektakuläre Jagd: Ein Einzelner narrt den Staatsapparat
- 5. Blutiger Showdown und umstrittener Prozess
- 6. Kulturelle Nachwirkung: Vom Verbrecher zur Ikone
- 7. Ein Leben im Spiegel seiner Zeit
„De Woch fangt scho guad o, heit werd i g’köpft.“ Mit diesem sarkastischen Kommentar in bayerischem Dialekt soll Mathias Kneißl die Nachricht seiner bevorstehenden Hinrichtung quittiert haben. Sechs Glas Bier als letzte Mahlzeit, dann der Gang zum Schafott. Um 7:15 Uhr am 21. Februar 1902 fiel im Innenhof des Augsburger Gefängnisses das Fallbeil, und der Kopf des 26-jährigen „Räuber Kneißl“ rollte in den bereitgestellten Korb. Ein Leben, das von Armut, Diskriminierung und Gewalt geprägt war, endete unter der Guillotine – doch die Legende begann erst.
Kaum eine Figur der bayerischen Geschichte polarisiert bis heute so sehr wie Mathias Kneißl. Für die einen ein kaltblütiger Polizistenmörder, für die anderen ein Rebell gegen ungerechte Verhältnisse. Seine Geschichte ist mehr als ein historischer Kriminalfall – sie ist ein Spiegel der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Spannungen im Bayern der Jahrhundertwende.
Vom verwahrlosten Kind zum gesellschaftlichen Außenseiter
Geboren am 12. Mai 1875 in Unterweikertshofen bei Dachau, waren Kneißls Startchancen von Beginn an schlecht. Seine Eltern, der Müller und Schreiner Mathias Kneißl Senior und dessen Frau Therese (geborene Pascolini), betrieben ein Wirtshaus, das bald als Hehlerzentrum für Wilddiebe und Kleinkriminelle bekannt wurde. Nach mehreren Polizeirazzien zog die Familie 1886 in die abgelegene Schachenmühle bei Sulzemoos – ein Ort, der zum Symbol für Verwahrlosung werden sollte.
In dieser Isolation wuchsen die fünf Kneißl-Kinder weitgehend ohne soziale Kontrolle auf. Der Dorfgemeinschaft waren sie suspekt, der Pfarrer von Sulzemoos nannte sie abfällig „die Pascolinis“ – nach dem italienisch klingenden Mädchennamen der Mutter. In der Schule erhielt der junge Mathias vom Lehrer das vernichtende Etikett „Zuchthauspflanze“ – eine Prophezeiung, die sich auf fatale Weise erfüllen sollte.
Der Wendepunkt: Ein Vater stirbt, ein Sohn wird inhaftiert
Das Jahr 1892 markierte einen dramatischen Einschnitt. Nach einem Kircheneinbruch fiel der Verdacht auf die Kneißl-Familie. Bei dem Versuch, den Vater festzunehmen, flüchtete dieser in Panik und verletzte sich so schwer, dass er auf dem Weg ins Gefängnis verstarb. Kurz darauf wurde auch Mutter Therese wegen Hehlerei verhaftet – die minderjährigen Kinder waren auf sich allein gestellt.
Der erst 14-jährige Bruder Alois Kneißl zog mit zwei Komplizen plündernd durch die Gegend. Als Gendarmen ihn in der Schachenmühle festnehmen wollten, kam es zu einem Schusswechsel, in den auch der 17-jährige Mathias hineingezogen wurde. Obwohl Alois später vor Gericht aussagte, sein Bruder habe nicht geschossen, wurde Mathias wegen Beihilfe und versuchten Totschlags zu fünf Jahren und neun Monaten Zuchthaus verurteilt. Sein Bruder Alois erhielt 14 Jahre, starb jedoch während der Haft an Krankheit.
Mathias verbüßte seine Strafe im Zuchthaus Amberg, wo er eine Schreinerausbildung absolvierte – ein Handwerk, das ihm später kaum nutzen sollte. Im Sommer 1899 wurde er im Alter von 24 Jahren entlassen, gesundheitlich angeschlagen und mit dem Stigma des „Zuchthäuslers“ belastet.
Gescheiterter Neuanfang in einer feindlichen Gesellschaft
Kneißls Versuch, ins bürgerliche Leben zurückzufinden, war zum Scheitern verurteilt. Nach kurzer Zeit bei seiner Mutter und seinen Schwestern in München entzog ihm die Stadt das Aufenthaltsrecht für zwei Jahre – eine damals übliche Diskriminierung vorbestrafter Personen. Er fand Arbeit als Schreiner im Dorf Nussdorf, wo er mit dem Traum lebte, genug Geld für eine Auswanderung nach Amerika zu sparen.
Doch die gesellschaftliche Stigmatisierung ließ ihm keine Chance. Nach nur sieben Monaten zwangen die anderen Gesellen seinen Arbeitgeber, den „gefährlichen Zuchthäusler“ zu entlassen. In einer Zeit ohne soziale Absicherung bedeutete dies den wirtschaftlichen Ruin. Kneißls Rückfall in die Kriminalität erscheint vor diesem Hintergrund fast zwangsläufig, verstärkt durch die prekären wirtschaftlichen Verhältnisse im ländlichen Bayern der Jahrhundertwende.
Bayern um 1900: Wirtschaftliche Not und soziale Spannungen
- 45% der Bayern arbeiteten in der Landwirtschaft (höchster Wert im Reich)
- Im Dachauer Raum dominierten Kleinstbetriebe unter 5 Hektar – zu klein für Überschussproduktion
- Nach der Bauernbefreiung zwang die Umstellung auf Geldwirtschaft viele zur Kreditaufnahme mit Zinsen bis zu 20%
- Bis zu 28% der Arbeitskräfte waren Tagelöhner mit 14-Stunden-Tagen für Löhne unter 100 Mark/Jahr
- Jährlich wurden 8-12% aller Höfe zwangsversteigert
Im Oktober 1900 überschritt Kneißl endgültig die Grenze zur Illegalität: Gemeinsam mit seinem Cousin Erhard Holzleitner brach er bei einem Hopfenbauern in der Hallertau ein. Die Beute: Wertpapiere im Wert von 2.500 Mark. Ein Versuch, diese in Oberschweinbach zu verkaufen, schlug fehl – die beiden wurden erkannt und mussten fliehen. Der Cousin wurde gefasst und verriet Kneißls Beteiligung. Am 11. November 1900 erließ die Polizei einen Steckbrief und setzte 400 Mark Belohnung aus – später erhöht auf die astronomische Summe von 1.000 Mark, das Dreifache eines durchschnittlichen Jahresverdienstes.
Die spektakuläre Jagd: Ein Einzelner narrt den Staatsapparat
Was folgte, war eine der aufwendigsten Fahndungen der bayerischen Kriminalgeschichte. Mobile Gendarmerie-Patrouillen durchkämmten die Wälder, Zivilfahnder wurden eingeschleust, ganze Landstriche systematisch durchsucht. Dennoch blieb Kneißl monatelang unauffindbar – ein Umstand, der der Polizei Hohn und Spott einbrachte und Kneißls Popularität in der Landbevölkerung steigerte.
Die Zeitungen berichteten täglich über die erfolglose Jagd, wobei sich ein deutlicher Unterschied zwischen städtischer und ländlicher Presse zeigte. Die „Münchner Neuesten Nachrichten“ bezeichneten Kneißl als „terrorisierenden Banditen“ und forderten militärische Unterstützung. Dörfliche Blätter hingegen romantisierten ihn als „Schlitzohr“, das die Staatsmacht vorführt, und druckten erfundene Anekdoten über spektakuläre Fluchtaktionen.
In internen Berichten klagten Gendarmen über die mangelnde Unterstützung durch die Bevölkerung; vielerorts waren die Menschen „kneißlerisch“ gesinnt. Manche schwiegen aus Sympathie, andere aus Angst vor Rache.
Am 30. November 1900 eskalierte die Situation dramatisch. Kneißl suchte Unterschlupf beim Bauern Michael Rieger in Irchenbrunn, der jedoch heimlich die Gendarmerie verständigte. Als die Beamten eintrafen, versuchte Kneißl zu fliehen und schoss dabei auf zwei Polizisten, die später ihren Verletzungen erlagen. Diese Tat machte aus dem Räuber einen Mörder und verstärkte den Fahndungsdruck weiter.
Blutiger Showdown und umstrittener Prozess
Die entscheidende Wende kam am 5. März 1901. Eine Information von Kneißls Cousine führte die Polizei zu einem abgelegenen Anwesen in Geisenhofen bei Maisach. In den frühen Morgenstunden umstellten rund 150 bewaffnete Beamte das Gehöft.
Was folgte, glich einer militärischen Operation: Die Scheune, in der man Kneißl vermutete, wurde mit etwa 1.500 Schuss durchsiebt. Als die Beamten schließlich das Wohnhaus stürmten, leistete der überraschte Kneißl keinen Widerstand mehr – dennoch feuerten die aufgebrachten Polizisten 21 Schüsse auf ihn ab. Schwerverletzt wurde er ins Krankenhaus nach München gebracht, wo er fünf Monate lang um sein Leben kämpfte.
Überraschenderweise erhielt der gefasste „Staatsfeind“ während seiner Genesung zahlreiche Briefe und sogar Blumen von Bewunderern – ein Zeichen, dass viele Menschen in ihm mehr sahen als einen gemeinen Verbrecher.
Im August 1901 begann vor dem Schwurgericht Augsburg der Prozess. Die Anklage lautete auf Mord an zwei Gendarmen sowie mehrere Raubüberfälle. Der Staatsanwalt forderte in drastischen Worten, Kneißl müsse „aus der menschlichen Gesellschaft ausgemerzt werden“. Kneißl selbst beteuerte, er habe die Polizisten nicht töten, sondern nur entkommen wollen – eine Version, der das Gericht keinen Glauben schenkte.
Das Todesurteil war von Anfang an umstritten. Selbst der vorsitzende Richter Anton Rebholz hegte offenbar Zweifel und schrieb später einen Brief an den bayerischen Prinzregenten Luitpold mit der Bitte, das Urteil nicht zu vollstrecken. Auch Kneißls Mutter und andere Unterstützer reichten Gnadengesuche ein. Doch der Regent lehnte jede Milde kategorisch ab – vermutlich aus politischen Gründen, da er ein Zeichen gegen die „Rechtszersetzung“ in ländlichen Regionen setzen wollte.
Kulturelle Nachwirkung: Vom Verbrecher zur Ikone
Bereits zu Lebzeiten wurde Kneißl in Teilen der Bevölkerung zum Mythos. In seiner Geschichte sahen viele ein Symbol für den Konflikt zwischen Arm und Reich, zwischen einfachem Volk und Obrigkeit. Diese Projektion sagt mehr über die gesellschaftlichen Spannungen im Bayern der Jahrhundertwende als über den Menschen Mathias Kneißl selbst.
Nach seinem Tod verstärkte sich diese Mythologisierung. Flugblattlieder mit Zeilen wie „I bin koan Mörder net, i hab mi nur g’wehrt“ kursierten auf Märkten, und Wanderbühnen inszenierten ihn als anti-preußischen Freiheitskämpfer. Während der NS-Zeit wurde Kneißl kurzzeitig als „Vorläufer volksdeutscher Wehrhaftigkeit“ instrumentalisiert – eine Deutung, die nach 1945 völlig verschwand.
Eine sozialkritische Neubewertung erfuhr die Kneißl-Geschichte in den 1960er und 70er Jahren. Reinhard Hauffs Film „Mathias Kneißl“ (1971) mit Hans Brenner in der Hauptrolle zeigte ihn als Opfer klassenkämpferischer Strukturen. Martin Sperrs Bühnenstück am Volkstheater München und Georg Ringsgwandls Ballade „D’Gschicht vom armen Mathias“ setzten diese kritische Lesart fort.
Neuere Bearbeitungen wie Marcus H. Rosenmüllers Kinofilm „Räuber Kneißl“ (2008) oder Christian Stückls Theaterinszenierung (2004-2007) betonen stärker die psychologischen Aspekte oder setzen auf Action und Unterhaltung. Heute ist Kneißl auch Gegenstand kommerzieller Vermarktung: Ein Museum in Maisach erinnert an ihn, die örtliche Brauerei braut ein „Räuber-Kneißl-Bier“, und Touristen können auf dem Räuber-Kneißl-Radweg die historischen Schauplätze seines Wirkens besuchen.
Vergleichbare historische Figuren in Bayern
Name | Zeitraum | Besonderheit | Unterschied zu Kneißl |
---|---|---|---|
Matthias Klostermayr („Bayerischer Hiasl“) | 1736–1771 | Anführer einer Räuberbande | Aktiver Sozialrebell mit politischem Programm |
Georg Jennerwein | 1848–1877 | Wildererstolz als Protest gegen Jagdprivilegien | Keine Gewalt gegen Personen |
„Kartoffel-Frank“ | 1853–1912 | Sozialer Bandit im Fränkischen | Erfolgreiche Integration nach Haft |
Ein Leben im Spiegel seiner Zeit
Die anhaltende Faszination für Mathias Kneißl erklärt sich aus der Komplexität seiner Geschichte. Er war weder der romantische Robin Hood, zu dem ihn manche stilisieren, noch der kaltherzige Verbrecher, als den ihn die Justiz verurteilte. Sein Leben spiegelt die Widersprüche einer Gesellschaft im Umbruch wider: zwischen feudalen Traditionen und industrieller Moderne, zwischen harter Staatsgewalt und aufbegehrender Landbevölkerung.
Die bittere Wahrheit bleibt: Kneißl hatte kaum eine Chance. Geboren in Armut, stigmatisiert vom Kindesalter an, durch frühe Haft weiter ausgegrenzt und ohne Möglichkeit zur Reintegration – sein Weg in die Kriminalität erscheint im historischen Rückblick fast zwangsläufig. Wie ein Volksspruch nach seiner Hinrichtung treffend zusammenfasste: „In Geisenhoifen ham s“n zua’gricht, in Minga hergricht und in Augsburg hin’gricht.“
Die Geschichte des Räuber Kneißl lehrt uns bis heute, dass soziale Ausgrenzung und fehlende Chancen auf Wiedereingliederung letztlich der gesamten Gesellschaft schaden. Sein tragisches Ende vor 123 Jahren mahnt uns, genauer hinzusehen, wenn Menschen an den Rand gedrängt werden – eine Lektion, die weit über die bayerischen Grenzen hinaus Gültigkeit besitzt.
Kneißl in Zahlen
- Geboren: 12. Mai 1875 in Unterweikertshofen
- Haftzeit: 1893-1899 (5 Jahre und 9 Monate im Zuchthaus Amberg)
- Kopfgeld: 1.000 Mark (entspricht dem dreifachen Jahresverdienst eines Arbeiters)
- Festnahme: 5. März 1901, mit 21 Schüssen verletzt, 1.500 Patronen verschossen
- Hinrichtung: 21. Februar 1902 in Augsburg, im Alter von 26 Jahren
- Leichnam: Von der Mutter für 60 Mark zurückgekauft für christliches Begräbnis
Der Artikel wurde mit Hilfe von KIs erstellt.
Quellen:
[1] Mathias Kneißl – Historischer Verein Fürstenfeldbruck[2] Räuber Kneißl – Bayerns beliebtester Mörder – Bayern – SZ.de[3] Der Räuber Kneißl – Theater am Hagen[4] Das stolze und traurige Leben des Mathias Kneissl – Kino Breitwand[5] Mathias Kneißl – Englische Wikipedia[6] Mathias Kneißl – Deutsche Wikipedia[7] Räuber Kneißl – Deutsche Wikipedia[8] Der Räuber Mathias Kneißl – Schulhaus Verein Unterweikertshofen[9] Der Räuber Kneißl – Gemeinde Sulzemoos[10] Räuber Kneißl – Verbrecher aus Tradition | Themen | BR.de[11] Im Wald da sind die Räuber II: Mathias Kneißl – Literaturportal Bayern[12] Bayern: Der Räuber Kneißl und sein kurzes Leben – Fürstenfeldbruck[13] Unser Räuber Kneißl – Brauerei Maisach[14] Erfahren Sie hier mehr über den Räuber Mathias Kneißl – Räuber-Kneißl-Radweg[15] Mathias Kneißl (Film) – Deutsche Wikipedia[16] Biographie – hallo-paul.de[17] Am 12. Mai 1875 wurde Mathias Kneißl im oberbayerischen Unterweikertshofen geboren – München TV[18] Film: Das stolze und traurige Leben des Mathias Kneißl – Gemeinde Karlsfeld[19] Der Fall Mathias Kneissl. – Süddeutsche Zeitung – Buchfreund[20] Der Räuber Mathias Kneißl ist eine Legende. Er narrt sie alle. – Stern Crime[21] Der Räuber und Wildschütz Mathias Kneißl – Traunsteiner Tagblatt[22] Kneißl, Mathias – Deutsche Biographie[23] Mathias Kneißl und »Schinderhannes«: Räuberromantik und Realität – Der Spiegel[24] Wildschütz-Verklärung: Mythos vom Volksheld | Themen | BR.de[25] Kneißl Hias – Outlaw Legend[26] Datei:Mathias Kneißl.jpg – Deutsche Wikipedia[27] Mathias Kneißl – Wikidata[28] Datei:Mathias Kneißl 1901 004.jpg – Deutsche Wikipedia[29] Mathias Kneißl – Regie: Reinhard Hauff – Deutsches-Filmhaus.de[30] Mathias Kneissl (film) – Englische Wikipedia[31] Oana von de Oidn – Literaturportal Bayern[32] Das traurige und stolze Leben des Mathias Kneissl – Rebuy[33] Bürgerliches Recht und Medizinrecht (Prütting) – Bucerius Law School[34] Mathias Kneißl – Bairische Wikipedia[35] Kritik zu Räuber Kneißl – epd Film[36] Grundrechte I und II sowie Europarecht – Jura Uni Hamburg[37] Mathias Kneißl | filmportal.de[38] Räuber Mathias Kneißl bis heute eine bayerische Legende – Onetz[39] Mathias Kneißl (kartoniertes Buch) | Neue Collibri Buchhandels-GmbH